Wie nachhaltig ist nachhaltig genug?

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Lukas Fischer
10.04.2025  ·  Lesezeit ca. 10 min.

In den letzten Jahren haben sich Zertifizierungen wie CDP, EcoVadis und die Science Based Targets Initiative (SBTi) zu wichtigen Benchmarks im Bereich der unternehmerischen Nachhaltigkeit entwickelt. Für Industrieunternehmen bedeutet das: Wer Verantwortung übernehmen will - und dies auch nach außen hin sichtbar machen will - muss konkrete Nachweise erbringen. Doch was wird hier eigentlich bewertet? Welche Herausforderungen bringt dieser Zertifizierungsdruck mit sich? Und wie können Unternehmen mit ihnen umgehen? Im folgenden Interview gibt Stefan Feichtinger, Nachhaltigkeitsbeauftragter der Swiss Steel Group, Einblicke in die praktische Umsetzung - und die strategischen Entscheidungen hinter starken Ratings.

Herausforderungen, Maßstäbe und Perspektiven rund um Nachhaltigkeitszertifizierungen in der Industrie

Nachhaltigkeit ist längst mehr als ein Trend. Sie ist zur Kernanforderung moderner Unternehmensführung geworden. Ob Kunden, Investoren, Gesetzgeber oder die eigene Belegschaft: Alle fordern zunehmend Transparenz, konkrete Maßnahmen und messbare Fortschritte. Die Frage ist dabei nicht mehr ob, sondern wie Nachhaltigkeit umgesetzt werden soll und vor allem: wie sie glaubwürdig belegt werden kann.

Für Industrieunternehmen, insbesondere in Branchen wie der Stahl- oder Chemieindustrie, stellt das eine besondere Herausforderung dar. Denn hier treffen ambitionierte Umweltziele auf komplexe Lieferketten, hohe regulatorische Anforderungen und technologische Abhängigkeiten, die sich nicht von heute auf morgen ändern lassen. Gleichzeitig wächst der Druck, von außen wie von innen.

Zertifizierungen: Orientierung oder Überforderung?

Dabei spielen Nachhaltigkeitszertifizierungen und -ratings eine immer größere Rolle: Sie sollen helfen, Leistungen vergleichbar zu machen, Fortschritte sichtbar zu zeigen und Vertrauen bei Stakeholdern zu schaffen. Der Markt ist geprägt von einer Vielzahl an Zertifikaten, Ratings und Standards – von ISO-Normen über EMAS bis zu Ratings wie EcoVadis und CDP oder Labels wie FSC und LESS. Doch die Vielzahl der Systeme, ihre unterschiedlichen Kriterien und die stetig wachsenden Datenanforderungen bringen viele Unternehmen an ihre Grenzen. 

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Vielfalt der Standards – Fluch oder Segen?

Die große Auswahl an Nachhaltigkeitszertifikaten ermöglicht es Unternehmen, ihre individuellen Nachhaltigkeitsziele gezielt abzubilden. Gleichzeitig führt die Heterogenität zu einer hohen Komplexität:

  • Welche Zertifikate gelten für welche Branchen?
  • Welche Regularien müssen im jeweiligen Markt erfüllt werden?
  • Wie unterscheiden sich nationale und internationale Anforderungen?

Vor allem global tätige Unternehmen stehen vor der Herausforderung, mehrere Zertifizierungen parallel zu erfüllen – oft mit unterschiedlichen Bewertungsmethoden und Berichtsanforderungen.

Trotzdem sind externe Bewertungen inzwischen ein wichtiger Bestandteil moderner Nachhaltigkeitsstrategien. Sie schaffen Vertrauen, machen Fortschritte vergleichbar und erleichtern die Kommunikation mit Kund:innen, Banken und Behörden. Drei Instrumente haben sich bei Swiss Steel Group besonders etabliert:

CDP – Offenlegung von Klimadaten für mehr Transparenz

Das Carbon Disclosure Project (CDP) ist eine globale Non-Profit-Organisation, die Unternehmen, Städte und Regierungen zur Offenlegung von Umweltdaten auffordert. Die Bewertung erfolgt unter anderem auf Basis von Emissionstransparenz, Klimarisiken, Zielsetzungen und konkreten Maßnahmen zur Emissionsminderung. Ein A-Rating bei CDP gilt als Nachweis besonders umfassender Klimastrategien und Datenqualität. CDP ist vor allem für institutionelle Investoren relevant und gewinnt auch im industriellen Einkauf an Bedeutung.

EcoVadis – Nachhaltigkeit entlang der Lieferkette

EcoVadis ist eine Plattform zur Bewertung der unternehmerischen Nachhaltigkeitsleistung entlang der gesamten Lieferkette. Bewertet werden vier Kategorien: Umwelt, Arbeits- und Menschenrechte, Ethik sowie nachhaltige Beschaffung. Unternehmen erhalten eine Punktzahl und eine Medaille (Bronze, Silber, Gold, Platin), was eine Vergleichbarkeit innerhalb der Branche erleichtert. Viele Industrieunternehmen fordern inzwischen eine EcoVadis-Bewertung ihrer Zulieferer.

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SBTi – Klimaziele im Einklang mit der Wissenschaft

Die Science Based Targets initiative (SBTi) hat sich zum Ziel gesetzt, wissenschaftsbasierte Klimaziele zu etablieren. Unternehmen, deren Ziele von der SBTi validiert werden, verpflichten sich zur Reduktion ihrer Emissionen in Einklang mit dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens. Die Validierung ist anspruchsvoll, bringt jedoch Glaubwürdigkeit und Struktur in die Dekarbonisierungsstrategie. Seit 2024 bietet die SBTi erstmals sektorspezifische Standards für die Stahlbranche an.

Zertifizierungen im Stahlkontext – ein Balanceakt

Für die Stahlindustrie ergeben sich daraus Chancen und Herausforderungen zugleich. Wer – wie viele europäische Hersteller – bereits emissionsärmere Produktionsverfahren nutzt (z. B. Elektrostahl mit Recyclingmaterial), kann schneller Fortschritte nachweisen. Gleichzeitig sind manche Fördermechanismen und Bewertungssysteme eher auf klassische Hochofenprozesse und deren Transformation ausgerichtet, was zu strukturellen Wettbewerbsnachteilen führen kann.

Darüber hinaus müssen Nachhaltigkeitsteams nicht nur operative Fortschritte erzielen, sondern diese auch nachvollziehbar dokumentieren und in standardisierte Formate überführen. Die Gefahr: Der bürokratische Aufwand wächst schneller als die tatsächliche Transformation.

Was es braucht, sind praxistaugliche Standards, klare Anforderungen und flexible Datensysteme, die auf neue Reportingformate reagieren können. Und es braucht Unternehmen, die diesen Weg konsequent mitgehen – auch wenn er nicht einfach ist.

Im folgenden Interview spricht Stefan Feichtinger, Senior Manager Corporate Technology, über aktuelle Entwicklungen, Herausforderungen und Chancen im Umgang mit Zertifizierungen und Klimazielen bei  Swiss Steel Group.

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Interview: Stefan Feichtinger über Zertifizierung, Klimaziele und grünen Stahl

Swiss Steel Group hat im Jahr 2024 bedeutende Fortschritte im Bereich Nachhaltigkeit gemacht. Wir sind der erste Stahlhersteller, dessen sektorale Klimaziele von der SBTi offiziell anerkannt wurden. Außerdem haben wir von der Umweltorganisation CDP die Bewertung A erhalten und wurden 2025 mit der Goldmedaille von EcoVadis ausgezeichnet. Was bedeuten diese Erfolge für uns als Unternehmen und für dich persönlich?

Diese Auszeichnungen sind eine große Anerkennung für Swiss Steel Group und alle, die daran gearbeitet haben. Die Teilnahme an den Ratings erfordert einen erheblichen Aufwand, der nur mit großem Einsatz und viel Vorarbeit von verschiedenen Abteilungen und Teams bewältigt werden kann. Dass diese Fortschritte nun durch unabhängige Ratings sichtbar werden, ist eine Bestätigung unserer nachhaltigen Entwicklung. Für die Gruppe insgesamt ist es ein wichtiger Meilenstein, da früher einzelne Standorte an Bewertungen teilgenommen haben, was zu doppeltem Aufwand führte. Jetzt haben wir ein gruppenweites Rating erreicht, das so gut ist, dass die einzelnen Standorte nicht mehr separat daran teilnehmen müssen. Dadurch vermeiden wir Redundanzen und steigern die Effizienz.

 

Haben diese Zertifizierungen auch die Sichtbarkeit unserer Nachhaltigkeitsstrategie verbessert?

Ja, definitiv. Es unterstreicht sowohl intern als auch extern, dass wir uns ambitionierte Ziele setzen und Fortschritt auch in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten möglich ist. Die Erfolge untermauern außerdem unsere Glaubwürdigkeit im Bereich Green Steel, sowohl in der Kommunikation mit Kunden als auch beim Einfordern von Verbesserungen bei unseren Lieferanten.

 

Kannst du kurz erklären, was EcoVadis und CDP genau bewerten und warum wir uns für diese Zertifizierungen entschieden haben?

EcoVadis bewertet Unternehmen anhand verschiedener Nachhaltigkeitsdimensionen – darunter Umwelt, nachhaltige Beschaffung, Arbeits- und Menschenrechte sowie ethische Geschäftsführung. CDP hingegen konzentriert sich speziell auf den Klimawandel und bewertet, wie effektiv Unternehmen ihre Klimastrategie managen, einschließlich ihrer Emissionsreduktion, Klimarisiken und Transparenz in der Berichterstattung. Während CDP auch für Investoren und Banken eine Relevanz hat, ist EcoVadis für unsere Kunden entlang der gesamten Lieferkette entscheidend.

 

Werden diese Ratings von unseren Kunden gefordert?

Ja, sowohl EcoVadis als auch CDP sind nicht nur freiwillige Bewertungen, sondern werden auch von Kunden sowie von Banken und Investoren eingefordert. Viele Kunden erwarten eine Mindestbewertung bei EcoVadis, während sie über CDP detaillierte Emissionsdaten einsehen möchten.

 

Wie schneiden wir im Vergleich zu unseren Mitbewerbern ab?

Bei CDP gehören wir in der Stahlbranche zu nur vier Unternehmen mit einem A-Rating. In der EcoVadis-Bewertung zählen wir zu den besten fünf Prozent aller bewerteten Unternehmen weltweit und sogar zu den besten zwei Prozent innerhalb der Stahlbranche. In beiden konnten wir uns in den letzten drei Jahren kontinuierlich verbessern. Jede weitere Verbesserung unserer Ratings bedeutet einen Mehraufwand. Deshalb ist es entscheidend, unseren Fokus gezielt auf die Nachhaltigkeitsanforderungen zu richten, die unsere Kunden tatsächlich an uns stellen.

 

Swiss Steel Group hat als erstes Stahlunternehmen die Klimaziele der SBTi validieren lassen. Warum ist diese Validierung so wichtig?

Die Validierung durch die SBTi verleiht unseren Klimazielen mehr Glaubwürdigkeit, gibt unseren Maßnahmen eine klare Richtung und stärkt unsere Argumentationsbasis bei Förderanträgen. Zudem haben wir aktiv an der Entwicklung dieser SBTi-Standards mitgewirkt und über Industrieverbände wertvollen Input geliefert, um sicherzustellen, dass sie praxisnah und für die Industrie anwendbar sind. Diese Vorreiterrolle stärkt nicht nur unsere Position, sondern trägt auch dazu bei, der gesamten Branche eine klare Richtung für ihre Klimaziele zu geben.

 

Mit der Einführung des Product Carbon Footprint (PCF) Tools erhöhen wir die Transparenz in der Berichterstattung. Welche Vorteile bringt dieses Tool?

Das PCF-Tool wird derzeit bei Steeltec in Emmenbrücke implementiert und anschließend bei der DEW in Siegen ausgerollt. Es ermöglicht eine präzise Berechnung des CO₂-Fußabdrucks für jedes unserer Produkte. Damit erfüllen wir nicht nur Kundenanforderungen, sondern schaffen auch Transparenz über die Emissionen unserer Produktionsprozesse. Derzeit entstehen und etablieren sich zahlreiche Bilanzierungsstandards, die eine lückenlose Nachvollziehbarkeit der Emissionen bis zum Endverbraucher gewährleisten sollen. Das bietet eine große Chance für unseren Green Steel. Angesichts dieser dynamischen Entwicklung von CO₂-Bilanzierungsstandards ist ein flexibles Datensystem entscheidend, um schnell auf neue Marktanforderungen reagieren zu können.

 

Nachhaltigkeit ist eine Teamleistung. Welche Teams haben maßgeblich zum Erfolg beigetragen?

Viele Abteilungen sind in unsere Nachhaltigkeitsstrategie eingebunden, darunter Umwelt, Arbeitssicherheit, Einkauf, Compliance und HR. Nachhaltigkeit kann nicht von einer einzelnen Abteilung getragen werden – sie muss integraler Bestandteil der gesamten Unternehmensstruktur sein.

 

Wie sieht die Zukunft der Nachhaltigkeit in der Stahlbranche aus und wie positioniert sich die Swiss Steel Group?

Die Stahlbranche steht vor großen Herausforderungen. Insbesondere integrierte Hersteller, die auf Kohle und Eisenerz basieren, müssen ihre Produktionsprozesse mit erheblichem Aufwand auf Direktreduktionsverfahren umstellen. Unsere Produktionsweise unterscheidet sich grundlegend von diesen traditionellen Methoden, da wir auf Elektrostahlproduktion setzen. Während viele unserer Mitbewerber in den nächsten 10 bis 15 Jahren erst auf nachhaltigere Technologien umstellen müssen, nutzen wir mit der Elektrostahlproduktion (EAF) bereits heute die Technologie der Zukunft. Dies ermöglicht uns, deutlich emissionsärmer zu arbeiten und von Anfang an auf eine nachhaltige Strategie zu setzen. Dennoch bleibt die Herausforderung, dass staatliche Förderprogramme oft auf großangelegte Dekarbonisierungsprojekte der Hochofenroute zugeschnitten sind, während unsere Prozesse bereits von Natur aus emissionsärmer sind. Das führt zu einem strukturellen Nachteil bei staatlicher Unterstützung. Gleichzeitig haben wir jedoch den entscheidenden Vorteil, nicht auf Prozesse setzen zu müssen, deren zukünftige Wettbewerbsfähigkeit mit sehr viel Unsicherheit behaftet ist.

 

Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in der Unternehmensstrategie der Swiss Steel Group?

Nachhaltigkeit ist ein zentraler Bestandteil unserer Strategie und wird aktiv und gezielt vorangetrieben. Durch unsere Top-Bewertungen bei EcoVadis und CDP sowie die SBTi-Zertifizierung haben wir unsere Fortschritte klar dokumentiert. Die größte Herausforderung besteht jedoch darin, Nachhaltigkeit langfristig wirtschaftlich tragfähig zu gestalten. Entscheidend ist nicht nur ein gutes Abschneiden in Ratings, sondern die Umsetzung von Maßnahmen, die sowohl wirtschaftlichen als auch ökologischen Mehrwert schaffen.

 

Stefan, vielen Dank für das Gespräch!

Fazit: Orientierung in einem komplexen System

Die zunehmende Bedeutung von Initiativen und Ratings wie CDP, SBTi oder EcoVadis zeigt: Nachhaltigkeit lässt sich heute nicht mehr ohne valide Nachweise kommunizieren. Sie ist zu einer messbaren, überprüfbaren und zunehmend standardisierten Leistung geworden, mit klaren Auswirkungen auf die Marktposition von Unternehmen.

Was in der Theorie nach klaren Rahmenbedingungen klingt, zeigt in der Praxis jedoch seine Tücken: Die Systeme sind komplex, ihre Kriterien dynamisch und der Aufwand für Unternehmen beträchtlich. Besonders in der Industrie, wo viele Prozesse historisch gewachsen sind, und auf jahrzehntelangen Technologien beruhen, bedeutet jeder Fortschritt nicht nur strategische Weitsicht, sondern auch operative Anpassung.

Das Interview mit Stefan Feichtinger macht deutlich, wie ein Unternehmen wie Swiss Steel Group mit diesen Anforderungen umgeht: durch gezielte Priorisierung, eine enge Zusammenarbeit verschiedenster Abteilungen und die klare Fokussierung auf diejenigen Standards, die Kunden, Investoren und regulatorische Stellen tatsächlich fordern. Gleichzeitig zeigt es, dass nachhaltiges Wirtschaften nicht auf Einmalmaßnahmen basiert, sondern auf einem kontinuierlichen Lern- und Verbesserungsprozess.

Zertifizierungen sind dabei nicht nur ein Ziel, sondern auch ein Werkzeug: Sie schaffen Struktur, Transparenz und Vergleichbarkeit - intern wie extern. Doch sie entfalten ihren vollen Nutzen nur, wenn sie in eine strategische Gesamtausrichtung eingebettet sind, die ökologische, ökonomische und soziale Ziele konsequent verbindet.

Nachhaltigkeit bleibt damit eine anspruchsvolle Aufgabe, aber auch eine echte Chance: für Differenzierung, für Innovation und für eine glaubwürdige Zukunftsfähigkeit industrieller Geschäftsmodelle.

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